Fluch-Amulett mit der ältesten in Israel gefundenen Erwähnung von YHWH

Ursprünglich am 26.03.2022 von Tim Lopez in Spanisch auf Arquebibes veröffentlicht.

Am 24. März 2022 stellte der Dr. Scott Stripling gemeinsam mit einem internationalen Team auf einer Pressekonferenz in Houston, Texas, vor, was eines der grössten Funde der biblischen Archäologie in der Neuzeit sein könnte. Es handelt sich um ein Amulett mit einer Inschrift in geschriebenem (sog. „protoschriftlichem“) Frühhebräisch, das den Namen Gottes, YHWH, enthält. Wenn die Datierung und Interpretation korrekt sind, wäre dies die älteste in Israel gefundene Erwähnung von YHWH in Hebräisch.

Das gefundene Fluch-Amulett (Foto: Associates for Biblical Research)

Das Amulett wurde im Rahmen des Projekts „Mount Ebal Dump Salvage, MEDS“ der „Associates for Biblical Research“ unter der Leitung von Dr. Scott Stripling im Winter 2019/2020 entdeckt.

Adam Zertal (1936-2015), ein Archäologe und ehemaliger Professor an der Universität Haifa, hatte in den 1980er Jahren Ausgrabungen in der Region des Berges Ebal durchgeführt. Zertal fand einen rechteckigen Altar, datiert auf das 13. Jahrhundert v. Chr. In einer tieferen Schicht darunter fand er zudem einen älteren runden Altar, der in die Zeit Josuas fallen könnte. Dies stimmt gut mit dem biblischen Text überein, der sagt:

Damals baute Josua dem HERRN, dem Gott Israels, einen Altar auf dem Berg Ebal.

Josua 8:30

Nach Deuteronomium 27 war der Berg Ebal der Ort der Flüche. Moses wies die Israeliten nach dem Überqueren des Jordans an, zum Berg Gerizim zu gehen und dort eine Zeremonie zur Erneuerung des Bundes mit Gott zu vollziehen. Vom Berg Gerizim wurden die Segnungen gelesen, die ihnen bei Gehorsam zuteilwerden, vom Berg Ebal hingegen die Flüche, die bei Ungehorsam folgen.

Luftaufnahme der Überreste des Altars auf dem Berg Ebal (Foto: Shomrim Al Hanetzach)

Das MEDS-Projekt bestand darin, das ausgesiebte und ausgeschüttete Material aus den Ausgrabungen von Adam Zertal erneut zu untersuchen. Das Team von Dr. Stripling siebte die Erde zunächst trocken und überprüfte das Material in einer zweiten Phase erneut mit einer Nasssiebtechnik, die im ‚Temple Mount Sifting Project‘ entwickelt wurde. Das Team von Zertal hatte gute Arbeit geleistet, aber ohne Nasssiebtechnik ist es unmöglich gewisse Funde zu erkennen.

Das dabei entdeckte Amulett misst 2 x 2 cm und ist aus Blei gefertigt. Es ist ein flaches, quadratisches Objekt. Eine Linie an drei der vier Ränder zeigt, dass es zur Hälfte gefaltet gewesen war. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Defixio (Fluch-Tablett), und enthält eine ausgefeilte und sorgfältig formulierte Fluchinschrift. Das Team schickte die Tafel in ein Labor in Prag, welches hochauflösende Magnetresonanzbilder durch das Blei anfertigen konnte, ohne die Tafel selbst zu manipulieren.

Pieter Gert van der Veen von der Universität Mainz und Gershon Galil von der Universität Haifa gelang es, den Text im Inneren zu entziffern. Sie identifizierten 40 Buchstaben im Inneren des Amuletts — alle in einer frühschriftlichen Darstellung aus der späten Bronzezeit (ca. 1400–1200 v. Chr.). Das Team, welches die Inschrift analysierte, datiert die Inschrift auf etwa das 12. Jahrhundert v. Chr., manche Elemente sogar früher.

Der Text wurde von Israeliten verfasst als eine Art Rechtsdokument, ein soziales Vertragswerk, das vor den Konsequenzen warnte, falls die Vereinbarung nicht eingehalten würde. Die Struktur des Textes zeigt ein chiastisches Parallelmuster, eine Gedichtform bei der die Zeilen spiegelbildlich wiederholt werden: Der gleiche Sinn ergibt sich, ob man es von Anfang bis Ende oder umgekehrt liest. Laut den Forschern lautet der Text im Kern:

Du bist vom Gott YHW verflucht, verflucht.
Du wirst sterben, verflucht – verflucht, du wirst sicher sterben.
Verflucht bist du von YHW – verflucht.

Zahlreiche Flüche! Wer aber gezielt in Deuteronomium 27–28 liest, findet dort tatsächlich Flüche. Es wirkt, als hätte jemand diese Kapitel maximal abgekürzt und als Gedicht niedergeschrieben.

Die im Amulett zweimal auftretende Form „YHW“ ist eine abgekürzte Form des Namens Gottes, „YHWH“, im Deutschen gewöhnlich mit „HERR“ übersetzt. Dass der Name so abgekürzt wurde, ist keineswegs ungewöhnlich: In Psalm 68:4 und Jesaja 12:2; 26:4; 38:11 sind einige Beispiele, bei denen der Name Gottes nur mit seinen ersten beiden Buchstaben, „YH“, erscheint.

Der Name Gottes JHWH auf dem Amulett vom Berg Ebal (Foto: Associates for Biblical Research)

Wenn Lesung und Datierung der Inschrift korrekt sind, ist dies die älteste jemals in Israel gefundene Erwähnung von YHWH. Da die Israeliten die Einzigen waren, die den Gott YHWH verehrten, impliziert dieses Amulett, dass sich Israeliten auf dem Berg Ebal während der Späten Bronzezeit aufhielten. Dies passt gut zum biblischen Bericht.

Allerdings wird dies für den grössten Teil der akademischen Welt ein Problem darstellen, denn die heute in der Wissenschaft verbreitetere Auffassung bezüglich der Ursprünge der Israeliten ist, dass sie erst rund 200 Jahre später im Land Israel erschienen.

Einer der Epigraphiker, die das Amulett studierten, hob hervor, dass die Qualität der Inschrift ausserordentlich gut sei – und dass die Person, die sie geschrieben hat, durchaus in der Lage gewesen wäre, den ganzen Pentateuch zu schreiben. Viele Wissenschaftler glauben, dass das Alte Testament viel später, in der persischen Zeit, geschrieben wurde, basierend auf der Annahme, dass die frühen Israeliten Analphabeten gewesen seien. Das Amulett zeigt jedoch nicht nur, dass sie schreiben konnten, sondern dass sie dies sehr gut beherrschten.

In den kommenden Monaten wird das Team einen peer-reviewten Fachartikel mit allen Details veröffentlichen.

Pressekonferenz, bei der der Fund präsentiert wurde.

Nachtrag: Aktuelle Forschung und Diskussion (Stand 2025)

Nach der ersten Bekanntmachung des Fundes im Jahr 2022 erschien 2023 ein begutachteter Fachartikel im Journal Heritage Science, in dem die Entdeckung des Bleiamuletts vom Berg Ebal detailliert beschrieben wurde. Die Publikation löste (erwartungsgemäss) eine lebhafte wissenschaftliche Debatte aus: Mehrere Forscherinnen und Forscher äusserten Zweifel an der Deutung und Interpretation der Inschrift und hinterfragten sowohl die methodische Vorgehensweise als auch die Datierung (siehe Artikel von Mark Haughwout sowie die Antwort von Stripling und Van der Veen).

Das Armstrong Institute of Biblical Archaeology veröffentlichte 2024 einen umfassenden Überblick über diese Kontroverse („Latest Round in Mount Ebal Saga“), in dem die verschiedenen Argumentationslinien zusammengefasst und kritisch gegeneinander abgewogen werden. Trotz der anhaltenden Diskussionen betont Tim Lopez, dass zwei Punkte unter den Fachleuten weitgehend unbestritten bleiben:

Das Amulett stammt aus der Zeit zwischen 1400 und 1200 v. Chr.,
und es enthält eindeutig protosemitische bzw. protohebräische Buchstabenformen. Diese beiden Tatsachen machen den Fund – ungeachtet der offenen Fragen zu seiner Deutung – zu einem bemerkenswerten Zeugnis früher Schriftkultur in der Region und zu einem wichtigen Diskussionsbeitrag in der ausserbiblischen Erforschung der Anfänge Israels.