Sind alle Religionen gleichwertig?

Der (religiöse) Pluralismus besagt, dass alle Religionen gleich gültig sind und somit gewissermassen auch gleichwertig sind in Bezug auf ihre Wirkung auf das Befinden der Menschen. Byrne beschreibt es so, dass die unterschiedlichen religiösen Systeme dieselbe Realität beschreiben und dass jene Realität mehrere Facetten hat.1 Falls der religiöse Pluralismus mit dieser Sichtweise richtig läge, dann könnte keine der Religionen die absolute Wahrheit für sich allein beanspruchen.

Zugunsten des religiösen Pluralismus sei gesagt, dass er sich daraus positive Aspekte für das Zusammenleben in einer global vernetzten Gesellschaft ergeben. Dadurch, dass unterschiedlichen Ansichten dieselbe Gültigkeit zugeschrieben wird, kann dies eine harmonische und respektvolle Koexistenz von Individuen mit unterschiedlichen Ansichten fördern und das ist lobenswert.

Ein bekanntes Argument für die Gleichwertigkeit von religiösen Inhalten wird anhand der Geschichte des Elefanten und der blinden weisen Männer illustriert.2 In der Fabel wird ein Elefant zum Gericht am Königshof gebracht. In Abwesenheit des Königs untersuchen die blinden weisen Männer den Elefanten, indem sie ihn betasten. Einer der Männer fühlt die Seite und meint, «der Elefant fühlt sich an wie eine Wand.» Der Zweite berührt den Schwanz und sagt, «ein Elefant ist wie eine Schlange.» Wiederum einer hält das Bein und sagt, «ein Elefant ist wie ein Baum.» Die Weisen beginnen sich darüber zu streiten, wer von ihnen nun Recht hat. Aufgrund des Lärms, der dadurch entsteht, nimmt sich der König der Sache an. Er erklärt ihnen, dass jeder von ihnen nur ein Teil des Gesamtbildes erfasst hat. Jeder von ihnen hat Recht. Wenn man alle Informationen zusammenfügt, dann gibt es das korrekte Gesamtbild und man versteht dadurch, was ein Elefant wirklich ist.

Abb. 1 – Elefant in Kambodscha3

Was aber sind die problematischen Aspekte der Anwendung dieser Illustration auf Glaubensinhalte? Wenn man das Szenario auf religiöse Wahrheiten anwendet, dann, so schlägt Powell vor, stellt der Elefant Gott dar und wir sind die blinden weisen Männer.4 In diesem Fall stellt sich aber die Frage, wer übrig bleibt, um analog zum König das Gesamtbild zu erfassen. Es fehlt also eine Person, die das Gesamtbild darüber, wie Gott ist, erfasst und uns darüber informiert, dass wir nur einen Teil davon erfasst haben.

So weisen Peterson et al. in Bezug auf die Illustration mit dem Elefanten darauf hin, dass man gemäss der Analogie in der Lage sein muss, eine Aussage über die letztendliche Realität (das wäre in diesem Fall Gott) zu machen. Sonst könnte man weder einzelne Teilaspekte, wie diejenigen, die durch die blinden Weisen beschrieben werden, noch die Tatsache, dass es überhaupt einen Elefanten (bzw. Gott) gibt, erfassen.5 Man muss also zumindest in Bezug auf einzelne Aspekte von Gottes Wesen oder Handeln in der Welt wahrheitsgemässe Aussagen machen können, falls man die Analogie in dieser Hinsicht anwenden will.

Ein anderes Problem des religiösen Pluralismus liegt darin, dass es wichtige Überzeugungen religiöser Menschen als unmöglich hinstellt, indem es grundlegende Glaubenssätze zu Mythen macht, wie Pinnock bemerkt. Er schreibt: «Es verlangt von Muslimen die Verneinung, dass der Koran für Gottes Absichten zentral ist. Es verlangt von Juden die Verneinung, dass Gott eindeutig durch Mose gesprochen hat. Es verlangt von Christen die Verneinung, dass Gott in Jesus Fleisch wurde.»6 Eine Schattenseite des religiösen Pluralismus zeigt sich darin, dass es wichtige Überzeugungen nicht ernst nimmt und dadurch selbst intolerant wird.

Wenn religiöse Überzeugungen ernst genommen werden und diese auch wahrheitsgemässe Aussagen über Gott beinhalten können, dann wird der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch relevant. Dieser besagt Folgendes. Wenn eine sinnvolle Aussage A wahr ist, dann ist nicht-A (in Zeichen: ¬A) falsch, und wenn A falsch ist, dann ist ¬A richtig. Falls beispielsweise die Aussage «Donald Trump ist der 45te Präsident der USA» wahr ist, dann müsste die Negation dieser Aussage («Donald Trump ist nicht der 45te Präsident der USA») falsch sein. Die beiden Aussagen können somit nicht gleichzeitig wahr sein.

Der Satz vom Widerspruch kann auf Aussagen unterschiedlicher Glaubensrichtungen angewandt werden. Anhand eines Beispiels soll dies veranschaulicht werden. Sowohl die Heilige Schrift der Christen, die Bibel als auch der Koran machen historische Aussagen über den Tod von Jesus, die mithilfe von historischen Methoden untersucht werden können. In der Bibel heisst es, dass «Christus für unsere Sünden gestorben ist . . . und dass er begraben wurde» (1 Kor 15:3-4) und in Mk 15:25 steht «. . . sie kreuzigten ihn.» Im Koran hingegen heisst es in Sure 4, Vers 157-158 folgendes:

Und weil sie sprachen: »Siehe, wir haben den Messias Jesus, den Sohn der Maria, den Gesandten Allahs, ermordet« – doch ermordeten sie ihn nicht und kreuzigten ihn nicht, sondern einen ihm ähnlichen – … (darum verfluchten wir sie).

Der Koran, Sure 4, Vers 157 bis 158, übersetzt von Max Henning (q-medial, 2013).

Die Aussagen, dass Jesus gekreuzigt wurde (Bibel) und dass er nicht gekreuzigt wurde (Koran), können nicht gleichzeitig wahr bzw. gültig sein. Es ist ausgeschlossen, dass beide Schriften gleichzeitig Gottes unfehlbare Offenbarung sind. Entweder hat in dieser Frage die Bibel oder der Koran recht, aber nicht beide gleichzeitig. (Für die Historizität des Todes von Jesus wird in diesem Artikel argumentiert.) In jedem Fall beschreiben die beiden Schriften nicht dieselbe Realität, wie dies der religiöse Pluralismus behauptet. Da der Sühnetod von Jesus für den christlichen Glauben eine zentrale Rolle spielt, darf man solche Fragen nicht ausklammern.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Grundhaltung des religiösen Pluralismus einen harmonischen und respektvollen Umgang fördern kann. Ein respektvoller Umgang mit Personen, die unterschiedliche Ansichten vertreten, sollte auf jeden Fall angestrebt werden. Gleichzeitig kann der religiöse Pluralismus aber dazu führen, dass wichtige Glaubensinhalte unterschiedlicher Religionen nicht gebührend ernst genommen werden. Weil Religionen zu zentralen Fragen zum Teil entgegengesetzte Antworten geben, ist es wichtig, diese zu prüfen und es sollte den Antworten dieser Religionen nicht im vornherein derselbe Wahrheitsgehalt zugemessen werden.

Fussnoten

  1. Peter Byrne, Prolegomena to Religious Pluralism (London: Maxmillan, 1995), 153. ↩︎
  2. Die antike indische Fabel wird in Lilian Fox Quigley, The Blind Men and the Elephant (New York: Charles Scribner’s Sons, 1959) wiedergegeben. ↩︎
  3. Pixabay, sasint ↩︎
  4. Doug Powell, Holman QuickSource Guide to Christian Apologetics (Nashville: Holman Reference, 2006), Kindle, loc. 1337. ↩︎
  5. Michael Peterson, William Hasker, Bruce Reichenbach und David Basinger, Reason & Religious Belief: An Introduction to the Philosophy of Religion, dritte Auflage (Oxford: Oxford University Press, 2003), 277. ↩︎
  6. Clark Pinnock, A Wideness in God’s Mercy (Grand Rapids, MI: Zondervan, 1992), 70. ↩︎