Neues Manuskript – die älteste Quelle über die Kindheit Jesu?

Die Adventszeit hat begonnen und Weihnachten steht vor der Tür. Milliarden von Menschen feiern die Geburt von Jesus. So ist es nicht wenig brisant, dass vor wenigen Monaten in den Medien publiziert wurde, dass ein neues Manuskript gefunden worden ist, welches die „ältesten schriftlichen Aufzeichnungen über die Kindheit Jesu“ beinhalte.1

Welches Manuskript wurde gefunden?

Das 1’600 Jahre alte Papyrusfragment wurde in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky gefunden.2 Dabei handelt es sich um die früheste bekannte Kopie des Kindheitsevangeliums des Thomas (nachfolgend KThom). Das Fragment (siehe Abb. 1), das etwa 11 mal 5 Zentimeter misst, enthält einen Teil einer Geschichte, in der der junge Jesus Vögel aus Ton formt und zum Leben erweckt. Bemerkenswert ist, dass dieses Manuskript auf das vierte oder frühe fünfte Jahrhundert datiert wird und somit die früheste Kopie des KThom in irgendeiner Sprache darstellt. Bisher galt ein Kodex aus dem 11. Jahrhundert n. Chr. als älteste Fassung des KThom.

Abb. 1 – Das kürzlich gefundene Papyrusfragment aus dem 4. bis 5. Jahrhundert.
Foto: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg/Public Domain Mark 1.0

Was genau ist das Kindheitsevangelium nach Thomas?

Das Kindheitsevangelium des Thomas (KThom) ist ein apokrypher Text3, der Geschichten über Jesus während seiner Kindheit enthält. Im Gegensatz zum Evangelium des Thomas (Thom) konzentriert sich das Kindheitsevangelium auf Jesus als junges Kind.

In dieser farbenfrohen Erzählung vollbringt Jesus bemerkenswerte Taten: Er formt Vögel aus Ton und erweckt sie zum Leben (Kap. 2, vgl. Fragment oben) oder heilt einen jungen Mann, dem die Axt auf den Fuss gefallen ist (Kap. 10). Nachdem ein Kind vom Dach gefallen und gestorben war, wird Jesus vorgeworfen, er habe es hinabgestossen (Kap. 9). Daher erweckt er das tote Kind zum Leben, woraufhin das Kind erklärt, dass es keineswegs von Jesus hinabgestossen worden ist. Etwas später (Kap. 18) fällt erneut jemand vom Dach, dieses Mal ein Handwerker. Auch hier wird beschrieben, wie (der 9-jährige?) Jesus den Mann bei der Hand fasst und mit den Worten „steh auf, geh deiner Arbeit nach“ auferweckt.

Das Kindheitsevangelium des Thomas porträtiert Jesus allerdings auch in einem volatilen Temperament und beschreibt, dass der diejenigen bestraft, die ihn reizen. So wird bspw. erwähnt, wie ein rennendes Kind an die Schulter von Jesus stösst, woraufhin Jesus bitter sagt, dass es seine Reise nicht beenden wird und das Kind zu Boden fällt und stirbt (Kap. 4).

Die Ursprünge dieses eigenartigen Evangeliums sind umstritten. Gelehrte datieren seine Entstehung auf das späte zweite Jahrhundert, da insbesondere Irenäus (Gegen die Häresien 1.20.1, vor 180 n. Chr.) zu diesem Zeitpunkt Bezug nimmt auf verschiedene Elemente der Erzählung. Bemerkenswerterweise ist der Prolog die einzige Stelle, wo der Autor erwähnt ist. Dieser fehlt in vielen der frühesten Erzählungen. Die Zuschreibung an Thomas wurde vermutlich später im Mittelalter hinzugefügt.

Ändert dieses Manuskript unser Verständnis der Kindheit Jesu?

Die wichtigste neue Erkenntnis im Zusammenhang mit diesem Fund beinhaltet, dass ein deutlich älteres Manuskript gefunden worden ist, als zuvor bekannt war (vorher ca. 11. Jh., neu ca. 4. / 5. Jh.). Der Fund selbst hat keinen Einfluss auf die Datierung des ursprünglichen Texts von KThom (2. Jh.). Zudem ist der Text bereits seit Generationen bekannt.

Entscheidend für den historischen Wert des KThom ist die historische Glaubwürdigkeit. Im Folgenden wird diese beurteilt und mit den Evangelien des Neuen Testaments und insbesondere dem Lukasevangelium, welches die meisten Angaben über die Kindheit Jesu macht (vgl. Lk 2:41-52), verglichen. Die wichtigsten Aspekte werden weiter unten in Tabelle 1 zusammengefasst.

Das KThom wurde erst im späten 2. Jahrhundert verfasst. Für die Qualität von historischen Informationen spielt der Zeitabstand zwischen Ereignissen und der Verfassung eine wichtige Rolle. Der Grund liegt darin, dass Texte, die näher zu den eigentlichen Ereignissen erfasst worden sind, tendenziell genauer die Realität wiedergeben. Das Lukasevangelium wurde bereits im 1. Jahrhundert verfasst.4 Also mehr als hundert Jahre früher.

Auch die Herkunft der Information bzw. die Quelle ist sehr entscheidend. Ein bedeutender Nachteil des KThom ist, dass es nicht von einem Augenzeugen oder Apostel verfasst worden ist. Somit stellt sich die Frage, woher der Autor diese Informationen hatte und ob er überhaupt wissen konnte, was während der Kindheit Jesu geschah. Das Lukasevangelium hingegen wurde durch den Historiker Lukas verfasst,5 welcher den Aposteln nahe stand und somit Zugang zu Augenzeugenberichten hatte.

Das KThom enthält ausgeschmückte, fantasievolle Elemente (vgl. oben), wie sie typisch waren in Kindheitsnarrativen von Helden der griechisch-römischen Welt von dazumal (vgl. Kindheitserzählungen von Achilles). In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass die Autoren der neutestamentlichen Evangelien der Versuchung widerstehen, fantasievolle Geschichten der Kindheit Jesus zu verfassen, sondern sich auf den Tempelbesuch im Alter von 12 Jahren beschränken (Lukas 2:41-52). Dadurch sind die kanonischen Evangelien den griechisch-römischen Biografien (bspw. von Suetonius und Plutarch) deutlich ähnlicher, weil auch jene in der Regel einleitend zuerst mehr über die Herkunft und Abstammung bemerken und dann hauptsächlich über das spätere Leben der Personen berichten. Das KThom ist daher eher im Bereich der Legenden zu verorten, während die kanonischen Evangelien mit griechisch-römischen Biographien (bios)6 zu vergleichen sind.

KriteriumKindheitsevangelium
nach Thomas (KThom)
Lukasevangelium (Lk)
AutorschaftDer Autor des Kindheitsevangelium hatte keinen Zugang zu den apostolischen Augenzeugen.Lukas (erstes Jahrhundert) hatte Zugang zu den apostolischen Augenzeugen.
DatumDas Kindheitsevangelium wurde über ein Jahrhundert nach dem Leben Jesu festgehalten.Lukas wurde kurz nach dem Tod Jesu verfasst.
Älteste schriftliche AufzeichnungDas neu entdeckte Manuskript ist die älteste Aufzeichnung des Kindheitsevangeliums und stammt aus dem vierten oder fünften Jahrhundert n. Chr.Die älteste schriftliche Aufzeichnung von Jesu Kindheit bleibt das Lukasevangelium. Die frühesten Manuskripte stammen bereits ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr.
TextgeschichteDas KThom hat eine instabile Textgeschichte.Lukas hat stabile frühe Manuskripte.
Historische GlaubwürdigkeitDas KThom wurde erst im späten 2. Jh. verfasst und enthält übertriebene und fantasievolle Geschichten, die typisch für andere Kindheitsberichte sind. Die bizarren Bilder von Jesus im Kindheitsevangelium werfen Zweifel auf.Die kanonischen Evangelien bieten eine zurückhaltende und sachliche Berichterstattung über Jesu Kindheit. Lukas wird von vielen Gelehrten als beeindruckender Historiker angesehen.
Tab. 1 – Ein Vergleich zwischen dem Kindheitsevangelium nach Thomas und dem Lukasevangelium

Die bizarren Bilder von Jesus im KThom (insbesondere das volatile Temperament) weichen stark von der Darstellung im Lukasevangelium ab. Da der historische Wert des KThom im Vergleich zu den kanonischen Evangelien deutlich geringer ausfällt, ist letzteres als historische Quelle zu bevorzugen.

Wir wünschten uns alle, dass die kanonischen Evangelien mehr Aussagen über die Kindheit Jesu machen würden. Aber wir müssen der Versuchung widerstehen, darüber zu spekulieren und diese Dinge in fantasievolle Geschichten zu verpacken, welche unsere Neugier befriedigen kann.

Zusammenfassung

Das Kindheitsevangelium nach Thomas (KThom) ist im Vergleich zum Lukasevangelium zeitlich deutlich weiter von den eigentlichen Ereignissen entfernt. Zudem hatte der Autor des KThom im Vergleich zu Lukas keinen direkten Zugang zu den apostolischen Augenzeugenberichten. Deswegen ist das Lukasevangelium als historische Quelle über das Leben Jesu zu bevorzugen. Es bleibt die verlässlichste Quelle.

Aufgrund dessen, dass die historische Glaubwürdigkeit des KThom fragwürdig ist, bleibt Zurückhaltung zu üben, wenn es darum geht, neuartige, spekulative Informationen über die Kindheit Jesus dem KThom entnehmen zu wollen. Wenn man die frühen Jahre Jesu erkunden möchte, können wir auch diese Weihnachten auf das Lukasevangelium (insbesondere in Kap. 2) zurückgreifen.

Fussnoten

  1. CBS News, „Newly deciphered manuscript is oldest written record of Jesus Christ’s childhood, expers say“, https://www.cbsnews.com/news/manuscript-deciphered-jesus-christ-childhood-oldest-written-record-experts-say, abgerufen am 9. Dezember 2024. ↩︎
  2. HU-Berlin, „Ältestes Manuskript eines Evangeliums über die Kindheit Jesu entdeckt“, https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/juni-2024/nr-2464-1, abgerufen am 9. Dezember 2024. ↩︎
  3. Religiöse Schriften judäo-christlicher Herkunft, welche zwischen 200 v. Chr. und 400 n. Chr. datiert werden, welche nicht teil des protestantischen biblischen Kanons sind. ↩︎
  4. Donald Guthrie, New Testament Introduction, 4. Ed., The Master Reference Collection (Downers Grove, IL: Inter-Varsity Press, 1996), 125; D. A. Carson und Douglas J. Moo, An Introduction to the New Testament, Second Edition. (Grand Rapids, MI: Zondervan, 2005), 210.
    ↩︎
  5. Donald Guthrie, New Testament Introduction, 4. Ed., The Master Reference Collection (Downers Grove, IL: Inter-Varsity Press, 1996), 125. ↩︎
  6. Steve Walton, „What Are the Gospels? Richard Burridge’s Impact on Scholarly Understanding of the Genre of the Gospels,“ Currents in Biblical Research 14, Nr. 1 (2015): 81-93. ↩︎