Einleitung
Für die christliche Theologie ist die Frage, ob Jesus wirklich Gott ist, von enormer Bedeutung. Sie beeinflusst nicht nur das Verständnis der Dreieinigkeit Gottes (Vater, Sohn, Heiliger Geist), sondern auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Letzteres macht die Frage auch für unser Leben heute noch entscheidend. Wenn Jesus nämlich göttlich ist, kann er Menschen durch Erlösung und Vergebung der Sünden zu einer persönlichen Beziehung zu Gott führen.
Im Folgenden untersuchen wir historische Quellen, um Genaueres darüber zu erfahren, wer Jesus war.
Argumente für die Gottheit Jesu
Es gibt verschiedene Ansätze, wie die Gottheit von Jesus gezeigt werden kann. So führt Greg Lanier in seinem Buch Is Jesus Truly God? How the Bible Teaches the Divinity of Christ mehrere Argumente auf, um die Gottheit Jesu zu belegen. Dazu gehört die Präexistenz von Jesus, d. h. dass er bereits seit jeher in der Vergangenheit existiert hat (also bereits bevor er als Kind zur Welt kam). Weiter zeigt er, dass die Titel «Sohn Gottes», «Herr» (gr. «kyrios») und «Gott» (gr. «theos») auf Jesus angewandt werden und was darunter zu verstehen ist. Zudem belegt er, dass Jesus bereits von Anfang an in der Christenheit angebetet und als Gott verehrt worden ist.
Der Philipperhymnus
Ein Abschnitt im Neuen Testament, welcher mehrere dieser Aspekte beinhaltet, findet sich in Philipper 2:5-11. Der Philipper-Brief wurde vom Apostel Paulus verfasst und ist spätestens auf die frühen 60er Jahre des 1. Jahrhunderts zu datieren.1 Viele Forscher gehen jedoch davon aus, dass sich bei diesem Abschnitt um ein Glaubensbekenntnis handelt, welches bereits vor Verfassung des Briefs im Umlauf war. Daraus lässt sich zeigen, dass bereits sehr früh, nämlich gegen Mitte des 1. Jahrhunderts, die Ansicht vertreten wurde, dass Jesus Gott ist. Deswegen konzentrieren wir uns auf diesen Abschnitt.
Habt diese Gesinnung in euch, die auch in Christus Jesus <war>, der in Gestalt Gottes war und es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein. Aber er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch befunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen verliehen, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
Philipper-Brief, Kapitel 2, Verse 5-11
Zusammenfassend geht es in diesem Abschnitt um Folgendes: Jesus war in der Gestalt bzw. Form (gr. «morphe») Gottes und Gott gleich (Phil 2:6).2 Er hat jedoch seinen erhöhten Status aufgegeben und die Form eines Dieners und Menschen angenommen, um als Mensch zu sterben (Phil 2:7-8). Danach wurde er erhoben und er erhielt einen Namen, «der über jeden Namen ist», sodass alle Menschen bekennen, dass er «Herr» ist (Phil 2:9-11).
Die Abfolge der Ereignisse ist so zu verstehen: (1) Jesus ist erhöht (er existiert bereits, =Präexistenz, vgl. Phil 2:6), (2) er demütigt sich (d. h. wird Mensch und stirbt, vgl. Phil 2:7-8) und (3) er wird erneut erhöht (vgl. Phil 2:9-11). Dadurch, dass er in Phase (1) bereits erhöht ist, bevor er Mensch wird in Phase (2), weist Jesus eine wichtige Eigenschaft Gottes auf, indem er bereits vor seiner Menschwerdung existierte.
Bemerkenswert ist, dass die Erhöhung von Jesus darin kulminiert, dass die gesamte Schöpfung Jesus anbetet! Es mag eingewendet werden, dass «Anbetung» ein zu starker Ausdruck dafür ist, weil es in Phil 2:10 lediglich heisst, dass sich jedes Knie beugt. Doch in Phil 2:10 wird eine Stelle aus dem Alten Testament, und zwar aus Jesaja 45:21-23, auf Jesus angewandt. Dort geht es jedoch darum, wie JHWH (hebräisch יהוה, der unvokalisierte Eigenname des Gottes Israels im Alten Testament) angebetet wird. Die Anbetung, die sonst eigentlich nur JHWH (dem ewigen Gott) gebührt, wird Jesus dargebracht.
Richard Bauckham hält zudem fest, dass es sich beim Namen, «der über jeden Namen ist», um keinen geringeren Namen als JHWH handelt, da alles andere für einen jüdischen Verfasser undenkbar gewesen wäre.3 Paulus unterstreicht somit nicht nur, dass Jesus angebetet wird, wie sonst für einen Juden eigentlich nur Anbetung von JHWH gebührt, sondern, dass Jesus selbst den Namen Gottes hat und dadurch in der göttlichen Identität eingeschlossen ist.
Zuletzt heisst es, dass die gesamte Schöpfung bekennt, dass Jesus «Herr» ist (Phil 2:11). Die griechische Bezeichnung «Herr» (gr. «Kurios», Phil 2:11) ist als ehrwürdiger Ausdruck zu verstehen, welcher die Herrschaft und Souveränität von Jesus ausdrückt.
Schlussfolgerung
Der Brief an die Philipper, verfasst vom Apostel Paulus, enthält einen bemerkenswerten Abschnitt, der die Essenz der Debatte um Jesus’ Göttlichkeit zusammenfasst. In Philipper 2:5-11 wird deutlich, dass Jesus bereits vor seiner irdischen Geburt existierte – eine Präexistenz, die seine Göttlichkeit unterstreicht. Doch anstatt sich auf seinem erhöhten Status auszuruhen, entschied sich Jesus, die Form eines Dieners und Menschen anzunehmen. Er wurde Mensch, um für die Menschheit zu sterben. Diese Demut führte zu seiner erneuten Erhöhung. Darum steht ihm der Name (Gottes, d.h. «JHWH») zu, der über jedem Namen steht. Er wird von der gesamten Schöpfung angebetet werden, wie es im Alten Testament nur dem ewigen Gott gebührt. Der Abschnitt verdeutlicht darum, dass Jesus wahrhaftig Gott ist – ein Glaubensbekenntnis, das bereits im 1. Jahrhundert die Christenheit prägte und die zentrale Botschaft offenbart: Jesus, der Menschheit und Göttlichkeit in sich vereint, hat die souveräne Herrschaft über die Schöpfung.
Fussnoten
- Die Frage nach der Datierung ist stark verknüpft mit dem Verfassungsort (Rom, Cäsaräa oder Ephesus), siehe Detlef Häußer in Der Brief Des Paulus an Die Philipper, ed. Gerhard Maier et al., Historisch-Theologische Auslegung Neues Testament (Witten; Giessen: SCM R.Brockhaus; Brunnen Verlag, 2016), 24. ↩︎
- Beim Ausdruck «Gestalt Gottes» ist vermutlich die sichtbare göttliche Herrlichkeit gemeint, welche Jesus bereits vor der Menschwerdung hatte. Siehe Dunn, Christology in the Making. A New Testament Inquiry into the Origins of the Doctrine of the Incarnation (London: Eerdmans, 1989), 115. ↩︎
- Bauckham, Richard. Jesus and the God of Israel: “God Crucified” and Other Essays on the New Testament’s Christology of Divine Identity (Milton Keynes: Paternoster, 2008), 199. ↩︎