Vor Kurzem veröffentlichte der US-amerikanische Theologe und Historiker T.C. Schmidt (Yale PhD) sein neues Werk bei Oxford University Press: Jesus & Josephus: New Evidence for the One Called Christ. Die Studie nimmt sich eines der zentralen ausserbiblischen Zeugnisse über Jesus von Nazareth an – dem sogenannten Testimonium Flavianum (nachfolgend TF), verfasst vom jüdisch-römischen Historiker Flavius Josephus um 93/94 n. Chr und Teil seines Werks Jüdische Altertümer 18.63-64. Eine verbreitete deutsche Übersetzung des TF (z. B. Universität Siegen) lautet wie folgt:
Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tag wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort.
Uni Siegen, https://www.uni-siegen.de/phil/kaththeo/antiketexte/
ausser/1.html, abgerufen am 6. Juni 2025
Lange Zeit galten wesentliche Aussagen dieser Passage als spätere christliche Zusätze. Die meisten Forscher vermuteten zurecht, dass ein jüdischer Historiker unmöglich Aussagen über Jesus wie „er war der Christus“ oder „er erschien seinen Jüngern am dritten Tag wieder lebendig“ gemacht haben könne.

Doch genau diese Lehrmeinung stellt Schmidt nun infrage. Mit seiner gründlichen Analyse zeigt er, dass das TF weitgehend authentisch ist, ohne Josephus dabei zum Christen zu machen.
Die Resonanz unter Fachkollegen ist beeindruckend:
Ein aussergewöhnlicher wissenschaftlicher Beitrag mit dem Potenzial, die Debatte über das Testimonium Flavianum grundlegend zu verändern.
Tobias Hägerland, Universität Göteborg
Wissenschaftler und Studierende der Jesusbewegung sowie der frühen jüdisch-christlichen Beziehungen werden sich mit seinem überzeugenden Argument und dessen Auswirkungen auseinandersetzen müssen.
Annette Yoshiko Reed, Harvard Divinity School
Die Entdeckung: Der Text ist echt und spricht trotzdem von Christus
Schmidt zeigt, dass das TF stilistisch, sprachlich und inhaltlich perfekt zu Josephus passt. Die scheinbar christlichen Aussagen sind bei genauer Analyse weder theologische Aussagen noch Bekenntnisse, sondern Berichte über den Glauben der Jesusanhänger – mit kritischer Distanz.
Um dies zu zeigen, weist er nach, dass einige etablierte Interpretationen des griechischen Texts missverständlich sind oder spätere Eingriffe widerspiegeln.
„Er war der Christus“ war ursprünglich: „Er wurde dafür gehalten“
In den meisten heute vorliegenden griechischen Manuskripten sind tatsächlich Formulierungen, die nicht zu Josephus passen, sondern christlich geprägt sind (wie „er war der Christus“, „Christus genannt“). Schmidt weist jedoch nach, dass die ursprüngliche griechische Version wahrscheinlich lautete: „Er war dafür gehalten worden, der Christus zu sein“ (S. 5-6). Diese neutrale Formulierung entspricht Josephus’ skeptischem Schreibstil.
Als Belege dafür zitiert er frühe lateinische und syrische Übersetzungen, um zu zeigen, dass der ursprüngliche griechische Text falsch weitergeben wurde. Hieronymus (4. Jh. n. Chr.) ist bekannt für viele Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische, insbesondere diejenige des Neuen Testaments. Er übersetzte den Text mit „credebatur esse Christus“ (= „er wurde für den Christus gehalten“, vgl. S. 37-41). In den syrischen Übersetzungen wird die Formulierung „er wurde dafür gehalten“ belegt, welche auf Jacob von Edessa (8. Jh. n. Chr.) zurückverfolgt werden kann (S. 46-63).
„Es schien ihnen“ – aber Josephus glaubt das nicht selbst
Josephus verwendet das griechische Verb ἐφάνη („er erschien ihnen“) – ein Wort, das in seinem Werk distanzierend gebraucht wird. Es bedeutet wörtlich: „Es schien ihnen, als sei er am dritten Tag wieder lebendig.“
Schmidt erklärt, dass Josephus den subjektiven Eindruck der Jünger schildert, nicht ein historisches Faktum. Genau dieses Stilmittel benutzt Josephus auch an anderen Stellen, wenn er über übernatürliche Ereignisse berichtet, denen er nicht zustimmt (S.96-100).
Rekonstruktion des ursprünglichen Textes
Schmidt rekonstruiert den authentischen Wortlaut des Testimoniums in einer Weise, die sowohl sprachlich auf Josephus passt als auch historisch glaubwürdig ist:
„Zu dieser Zeit lebte ein gewisser Jesus, ein weiser Mann… Er vollbrachte erstaunliche Taten… Er gewann viele Juden und auch Griechen. Er wurde für den Christus gehalten. Und obwohl Pilatus ihn auf Verlangen der führenden Männer unserer Nation kreuzigte, blieben seine Anhänger ihm treu. Am dritten Tag schien es ihnen, als sei er wieder lebendig, wie die Propheten solche Dinge vorausgesagt hatten. Und die Christen, die sich nach ihm nennen, existieren bis heute.“
S. 6 in Jesus & Josephus: New Evidence for the One Called Christ von T. C. Schmidt (singemäss aus dem Englischen übersetzt)
Josephus kannte Jesu Ankläger persönlich
Ein besonders starker Punkt in Schmidts Argumentation ist seine Entdeckung, dass Josephus in der Passage nicht einfach schreibt, Jesus sei von „führenden Juden“ angeklagt worden, sondern von den „ersten Männern unter uns“ (vgl. S. 151-158).
In über 50 weiteren Vorkommen dieser Formulierung zeigt sich: Josephus verwendet diesen Ausdruck ausschliesslich, wenn er über Personen spricht, die er persönlich kannte (S. 153).
Schmidt zeigt auf, dass Josephus enge Kontakte zur Hohepriesterfamilie Ananus hatte, darunter Ananus II, Schwager von Kaiphas, der laut Evangelien im Prozess gegen Jesus involviert war (S. 187-190). Zudem kannte Josephus mehrere Personen, die an der Anklage oder an Prozessen gegen Jesus und seine Jünger (z. B. Jakobus, Paulus) beteiligt waren (S. 174).
Somit kann gefolgert werden, dass das TF auf Aussagen von Augenzeugen (insbesondere von Gegnern der christlichen Bewegung) beruht.
Apologetische Bedeutung des Werks
Für die Verteidigung des christlichen Glaubens ist diese Forschung ein wichtiger Meilenstein. Das TF bestätigt, dass der Glaube an Jesu Wundertaten, Tod, Auferstehung und messianische Sendung nicht später entstand, sondern bereits unmittelbar nach Jesu Tod existierte (vgl. S. 211-214). Das Werk von Schmidt zeigt, dass der Kern des Evangeliums auch ausserhalb der Bibel historisch bezeugt wird.
Fazit
Schmidts Analyse rehabilitiert das Testimonium Flavianum als glaubwürdiges historisches Zeugnis. Es stammt nicht von Christen und spricht doch von Christus. Der Bericht des skeptischen jüdischen Historikers bezeugt den frühen Glauben an Jesus, seine Auferstehung und seine Rolle als Messias.
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Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels kann das Buch (im Wert von rund CHF 100) über folgenden Link kostenlos als PDF heruntergeladen werden: https://academic.oup.com/book/60034.