Wieso besteht das Neue Testament aus genau diesen 27 Büchern?

Das Neue Testament – ein faszinierendes Buch, das 27 Schriften umfasst. Aber wie kam es zu dieser Auswahl? Warum genau diese Bücher und keine anderen? Und wurde der Kanon tatsächlich im 4. Jahrhundert von der Kirche festgelegt? In diesem Artikel werden wir die spannende Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments erkunden und die beiden gängigsten Modelle vergleichen.

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Der Begriff «Kanon» und das extrinsische Modell

Die Frage, wann der Kanon geformt wurde, hängt davon ab, mit welcher Definition gearbeitet wird. Wenn man damit eine abgeschlossene Anzahl von Büchern meint, dann spricht man von der «exklusiven» Definition. Diese Definition wird häufig verwendet, um sich auf die 27 Bücher des Neuen Testaments zu beziehen. Sie spielt gerade bei Befürwortern des extrinsischen Modells zur Entstehung des biblischen Kanons eine zentrale Rolle. Gemäss diesem Modell wurde der Kanon zu jenem Zeitpunkt geschaffen, als eine abgeschlossene Liste von Büchern festgelegt wurde. Das Modell wird als «extrinsisch» bezeichnet, weil es die Sichtweise vertritt, dass der Kanon von aussen her bestimmt wurde. Aus dieser Perspektive wurde der Kanon in einem gewissen Sinne auf den christlichen Glauben übergestülpt.

Konzilien und der Kanon

Bei Vertretern des extrinsischen Modells spielen die Konzilien der Kirche, an denen die Liste der Bücher definiert wurde, eine entscheidende Rolle. Manche, die das Buch Da Vinci Code von Dan Brown gelesen haben, mögen zur Überzeugung gekommen sein, dass das Konzil von Nizäa (um 325 n. Chr.) in einer Art Machtdemonstration die Zusammensetzung des Neuen Testaments festgelegt hat. Dies hat sowohl von skeptischen als auch christlichen Gelehrten Kritik ausgelöst. Der Hauptgrund liegt darin, dass der Kanon gemäss den Besprechungspunkten und Entscheidungen des Konzils gar nicht diskutiert wurde.1

Es ist jedoch zutreffend, dass die Konzilien bei der Festlegung des Kanons eine gewisse Rolle gespielt haben. Die eigentliche Liste der kanonischen Bücher wurde nämlich am Konzil von Hippo (393 n. Chr.) und Karthago (397) fixiert.2 Wenn man mit der exklusiven Definition arbeitet und das extrinsische Modell vertritt, hat man hiermit (d.h. gegen Ende des 4. Jahrhunderts) den spätmöglichsten Zeitpunkt für die Festlegung des Kanons ermittelt.

Einschränkungen des extrinsischen Modells

Die zuvor beschriebene exklusive Definition und das extrinsische Modell haben allerdings gewisse Nachteile. Der Neutestamentler Michael Kruger weist darauf hin, dass ein Problem der Definition darin liegt, dass es den Eindruck vermittelt, das Neue Testament habe vor Fertigstellung dieser Liste von Büchern einen niedrigeren Status aufgewiesen.3

Die neutestamentlichen Schriften selbst geben bereits Hinweise darauf, dass die Autoren des Neuen Testaments ihrer eigenen Autorität bewusst waren und diese auf die gleiche Ebene wie das Alte Testament stellten. In 2 Pe 3:16 werden zum Beispiel die Briefe von Paulus vom Status her mit den Schriften des Alten Testaments («die übrigen Schriften») verglichen. In 1 Tim 5:18 werden (direkt folgend auf die einleitenden Worte «denn die Schrift sagt») zuerst das Alte Testament und dann das Lukas-Evangelium (Lk 10:7) zitiert.

Diese Schriften des Neuen Testaments hatten demnach bereits deutlich vor Ende des 4. Jahrhunderts einen erhöhten Status. Da die exklusive Definition den erhöhten Status der Schrift vor den Konzilien nicht genügend berücksichtigt, beschreibt diese Definition den Sachverhalt zu wenig akzentuiert.

Das Intrinsische Modell

Im Kontrast zum extrinsischen Modell steht das sogenannte «intrinsische» Modell. Der Grundgedanke hinter dem letzteren Modell liegt darin, dass der Kanon sich auf natürliche Weise aus dem christlichen Glauben heraus entwickelt hat.4 Dieses Modell hat den Vorteil, dass der erhöhte Status der Schriften bereits vor den Konzilien mitberücksichtigt wird. Die Bücher, die an den Konzilien in die Liste des Kanons aufgenommen wurden, sind nicht willkürlich ausgewählt. Sie waren bereits zuvor von den meisten Gemeinden akzeptiert, da sie eine Reihe von Kriterien erfüllten.5

Kriterien

Zu den Kriterien für die Aufnahme in den Kanon gehörte zum einen, dass das entsprechende Buch von einem Apostel oder von jemandem, der einem Apostel nahe stand, geschrieben sein musste. Man spricht hier auch vom Kriterium der apostolischen Herkunft. Aufgrund dieses Kriteriums war es zudem gezwungenermassen nicht möglich, dass ein Werk aus der Zeit nach den Aposteln (also später als das 1. Jahrhundert) stammt.

Abb. 1 – Einteilung der Bücher nach Eusebius

Als nächstes musste ein Buch zu dem Rest der Schriften passen. Hierbei handelt es sich um das Kriterium der Orthodoxie. Bevor ein neues Buch anerkannt wurde, musste es also mit denjenigen, die bereits akzeptiert und anerkannt waren, im Einklang sein.

Das Buch musste zudem auch von den Gemeinden allgemein akzeptiert und im Gottesdienst verwendet werden (Kriterium der Universalität). Nicht alle Bücher wurden aber gleich schnell von den Gemeinden im Laufe der ersten drei Jahrhunderte akzeptiert. Zwar bestand in Bezug auf die meisten heute kanonischen Bücher schon früh Einigkeit. Es gab aber auch einige Bücher, die zwar weithin, jedoch nicht überall akzeptiert waren. Wiederum andere Bücher wurden abgelehnt. Diese Graduierung ist deutlich ersichtlich aus der Aufteilung des Kirchenhistorikers Eusebius. Er versuchte um 325, die Bücher in verschiedene Kategorien einzuteilen (siehe Abb. 1).6

Die Beobachtung, dass gewisse Bücher nicht unmittelbar von allen Gemeinden akzeptiert wurden, deckt sich auch, wenn man den Kanon Muratori betrachtet. Dabei handelt es sich um die früheste heute erhaltene kanonische Liste. Sie wird auf das Ende des 2. Jahrhunderts datiert und beinhaltete 23 der 27 Bücher des Neuen Testaments.7 Erst etwas später (um 367 n. Chr.) finden wir bei Athanasius die früheste Auflistung der 27 Bücher, so wie wir sie heute im Neuen Testament vorliegend haben.8 Es ist möglich, dass einige Gemeinden schon deutlich früher exakt die heutigen 27 Bücher als Kanon betrachteten. Da die historischen Quellen aber bruchstückhaft sind, kann dies nicht belegt werden. Die Diskussion der hier betrachteten historischen Quellen ergibt, dass der Kanon einen festen Kern hatte, welcher Bücher beinhaltete, die schon sehr früh allgemein akzeptiert wurden. Der Rand des Kanons hingegen, der eine Handvoll Bücher umfasste, scheint sich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts gefestigt zu haben.

Abb. 2 – Zeitlicher Ablauf

Schlussfolgerungen

Der Kanon des Neuen Testaments im Sinne einer festen, allgemein anerkannten Liste von Büchern (exklusive Definition) bestand gegen Ende des 4. Jahrhunderts. Gemäss dem intrinsischen Modell waren aber bereits deutlich früher eine Reihe von Büchern anerkannt, die vom Status her auf die gleiche Stufe mit dem Alten Testament gestellt wurden. Während der Kern des heute bestehenden Kanons schon sehr früh anerkannt wurde, verfestigte sich der Rand des Kanons gegen Ende des 4. Jahrhunderts.

Fussnoten

  1. Bart Ehrman, « The Son of God, the Council of Nicea, and the Da Vinci Code”, erstellt am 16.02.2016, abgerufen am 25.03.2019, https://ehrmanblog.org/the-son-of-god-the-council-of-nicea-and-the-da-vinci-code/, Jonathan McLatchie, “What Really Happened at Nicea”, erstellt am 7. Juni 2012, abgerufen am 25.03.2019, https://crossexamined.org/what-really-happened-at-nicea/. ↩︎
  2. Frederick Bruce, The Canon of Scripture (Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 1988). Kap. 19, “Councils of Hippo and Carthage”. ↩︎
  3. Michael J. Kruger, The Question of Canon: Challenging the Status Quo in the New Testament Debate (Downers Grove: IVP Academic, 2013), 32. ↩︎
  4. Michael J. Kruger, The Question of Canon: Challenging the Status Quo in the New Testament Debate (Downers Grove: IVP Academic, 2013), 21. ↩︎
  5. Siehe zum Beispiel Craig L. Blomberg, The Historical Reliability of the New Testament: Countering the Challenges to Evangelical Christian Beliefs (Nashville: B&H Academic, 2016), Kindle loc. 9336-9345. ↩︎
  6. Alexander Roberts and James Donaldson, eds., Nicene and Post-Nicene Fathers, vol. 1, second series, The Church History of Eusebius, by Eusebius (Peabody, MA: Hendrickson, 2004), 155–157. ↩︎
  7. Joseph Verheyden, “The Canon Muratori: A Matter of Dispute,” in The Biblical Canons, ed. J.-M. Auwers and H. J. de Jonge (Leuven: Leuven University Press and Peeters, 2003), 487– 556. ↩︎
  8. Bruce M. Metzger, The New Testament: Its Background, Growth, and Content, 3rd ed. (Nashville: Abingdon, 2003), 316. ↩︎