Ist die Bibel irrtumslos?

Einleitung und Definition

Mit der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift bzw. der Bibel ist gemeint, dass die Originalhandschriften der 66 Bücher, die das Alte und Neue Testament ausmachen, keine Fehler enthalten. Genauer gesagt bedeutet es, dass keine Aussage darin gemacht wird, bei der etwas bejaht wird, was falsch ist.1 Die Irrtumslosigkeit der Bibel ist die historische Position der Kirche und entsprach für mehr als eineinhalb Jahrtausende dem Konsens.2 Erst seit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts wurde diese Position zunehmend angefochten.

Argumente für die Irrtumslosigkeit der Bibel

Ein erstes Argument für die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift beginnt mit dem Wesen Gottes. Gott ist ein maximal gutes Wesen. Schon Anselm (1033-1109 n. Chr.) hatte Gott als Wesen bezeichnet, «über dem nichts Grösseres gedacht werden kann.»3 Dies bedeutet u.a., dass er moralisch perfekt und allwissend ist. Wenn Gott sich Menschen offenbart, dann ist deshalb zu erwarten, dass Gottes Botschaft keine Unwahrheit enthält, denn Gott kennt die Wahrheit (aufgrund der Allwissenheit) und er würde nichts Falsches kommunizieren (weil er moralisch perfekt ist).

Das obige Argument impliziert noch nicht, dass die Bibel Gottes Wort ist. Aber es bedeutet, dass keine Fehler zu erwarten sind, wenn sich Gott offenbart. D.h. es ist noch offen, ob und in welchem Buch sich Gott offenbart hat. Gleichzeitig ist es aber wichtig, dass ein solches Argument mit der Art und Weise, wie die Bibel Gott beschreibt, im Einklang ist. Gott lügt nicht (Tit 1:2). In Heb 6:18 wird sogar erwähnt, dass Gott unmöglich lügen kann. Und weil alle Schrift von Gott eingegeben ist (2 Tim 3:16) folgt, dass diese wahr und vertrauenswürdig ist.4 Deswegen ist es grundsätzlich möglich, dass Gott sich in der Bibel offenbart hat.

Abb. 1 – Für mehr als 1’500 Jahre wurde die Bibel von Christen als Gottes unfehlbare Offenbarung gesehen.

Beim zweiten Argument für die Irrtumslosigkeit der Bibel spielt es eine wichtige Rolle, welche Aussagen Jesus Christus über die Heilige Schrift machte. Dieses Argument ist besonders gewichtig für diejenigen Menschen, die beispielsweise aufgrund ihrer Erfahrung oder historischer Überlegungen (insbesondere seiner Auferstehung) bereits zur Überzeugung gelangt sind, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Wenn Jesus nämlich der Sohn Gottes ist, dann verfügt er über eine besondere Autorität. In Mt 5:17-18 bestätigt er das Alte Testament sowohl in seiner Gesamtheit («Gesetz und Propheten», v17) als auch in dessen Details bis hin zum Buchstaben (v18):

Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen! Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergangen sind, wird nicht ein Buchstabe noch ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.

Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Verse 17 bis 18

Es gibt mehrere Gründe, die dafürsprechen, dass Jesus eine solche Aussage gemacht hat. Zum einen wird Matthäus, der Steuereinnehmer aus Kapernaum und Jünger Jesu, gegen Ende des 2. Jh. (ca. 185 n. Chr.) von Irenäus als Autor des Matthäusevangeliums genannt.5 Die Autorschaft des Matthäus-Evangeliums wird zudem von den Kirchenvätern allgemein bestätigt.6 Ausserdem ist die Überschrift «Evangelium nach Matthäus» durch das Manuskript P64 bereits um ca. 200 n. Chr. belegt.7 (Dies sind gewichtige Argumente dafür, dass Matthäus das Evangelium verfasst hat, die den Gegeneinwand entkräften, dass Matthäus lediglich eine Sammlung von Sprüchen in hebräischer oder aramäischer Sprache verfasst habe.8) Zudem wurde das Evangelium selbst vermutlich zwischen 55 und 70 n. Chr. geschrieben.9 Es wurde also zeitlich nahe genug zu den Ereignissen von einem Jünger geschrieben, welcher in einer guten Position war, um darüber berichten zu können.

Aber selbst dann, wenn man die zuvor genannten Argumente zur Verfasserschaft und Datierung ablehnen würde, so deckt sich die Aussage von Jesus in Mt 5:17-18 dennoch mit dem allgemeinen Denken der damaligen Zeit. Vawter schreibt: «… die biblische Irrtumslosigkeit … war die allgemeine Ansicht zu Beginn des Christentums und bereits zu den jüdischen Zeiten davor. Sowohl für die [Kirchen-]Väter als auch die Rabbis … war es undenkbar, dass die Bibel einen Fehler enthält.»10 Demzufolge ist davon auszugehen, dass Jesus die Ansicht vertrat, dass die Bibel keine Fehler enthält.

Weshalb gängige Einwände die Irrtumslosigkeit der Bibel nicht widerlegen

Zum Teil wird eingewendet, dass es sich bei Argumenten für die Irrtumslosigkeit der Bibel um zirkuläre Argumente handelt. Dieser Einwand ist berechtigt, wenn das einzige Argument für die Irrtumslosigkeit der Bibel z. B. so aussehen würde:

(1) Wenn die Bibel sagt, dass sie keine Fehler enthält, dann enthält sie keine Fehler.
(2) Die Bibel sagt, dass sie keine Fehler enthält.
(3) Deshalb enthält die Bibel keine Fehler.

Ein solches Argument wäre zirkulär, weil bereits als wahr angenommen wird, was eigentlich die Konklusion des Arguments sein soll, nämlich dass die Bibel ohne Fehler ist und daher auch die Aussage, die die Bibel über sich selbst macht („Die Bibel sagt, dass sie keine Fehler enthält“), wahr ist. Oder in anderen Worten: Wenn die Bibel über sich selbst sagt, dass sie irrtumslos ist, dann nimmt man das bereits als wahr an, um zu zeigen, dass die Bibel irrtumslos ist.

Die oben erwähnten Argumente umgehen allerdings diesen Einwand. Das erste Argument, welches mit Gottes Wesen beginnt, ist nicht zwingend abhängig davon, was die Bibel über Gottes Wesen sagt. Bspw. auch islamische Denker argumentieren, dass Gottes Perfektion nicht durch Limitierungen eingeschränkt wird.11 Wenn Gott allwissend und moralisch perfekt ist, dann hat man gute Gründe anzunehmen, dass er wahrheitsgetreu kommuniziert. Auch das zweite Argument ist nicht zirkulär, weil es ausgehend von der Autorität Jesu als historischer Person darauf abzielt zu zeigen, dass er selbst die Irrtumslosigkeit der Schrift vertrat.

Ein anderer Einwand liegt darin zu behaupten, dass die Bibel Fehler enthielte. Grundsätzlich würde es reichen, einen einzigen Fehler zu entdecken, um die Irrtumslosigkeit der Bibel zu widerlegen. So wird nicht selten von Skeptikern eingewendet, dass sich die Evangelien widersprechen. Wie antwortete beispielsweise Petrus, als Jesus die Jünger fragte, wer er sei? Sagte er «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes», wie es in Matthäus 16:16 geschildert ist, oder lediglich «Du bist der Christus» (Mk 8:29), oder aber «der Christus Gottes», wie es Lukas wiedergibt (siehe Lk 16:20)? Hier verweisen evangelikale Gelehrte darauf, dass die Bibel Anführungszeichen für direkte Zitate nicht kennt und dennoch irrtumslos sein kann.12 Solche Aussagen können also als indirekte Zitate verstanden werden, deren Inhalt sich deckt.13 Dieses Thema wird im Artikel «Widersprechen sich die Evangelien» detaillierter behandelt.

Selbstverständlich kann an dieser Stelle nun nicht allen derartigen Einwänden begegnet werden. Eine Vielzahl evangelikaler Gelehrten bezeugt aber, dass sie von keiner einzigen Bibelstelle wissen, wo es nicht mindestens eine plausible Antwort auf solche Einwände gibt. Deswegen sollen stattdessen einige Ursachen dafür aufgelistet werden, warum fälschlicherweise behauptet wird, die Bibel enthielte Fehler:

ProblemErklärung
Es wird eine übertriebene Genauigkeit bei Zahlen erwartet.Die Bibel gibt teilweise grobe Zahlen an (siehe bspw. 1 Cor 10:8 und Num 25:9).14 Wir tun dasselbe, wenn wir zum Beispiel gefragt werden, wie schwer wir sind.
Ein naturwissenschaftlicher Standard wird erwartet.Die Bibel beschreibt gewisse Phänomene wie das Aufgehen der Sonne (Jes 45:6) aus der Sicht des Betrachters.15 Auch heute wird umgangssprachlich noch immer vom Sonnenaufgang gesprochen und somit die Perspektive des Betrachters eingenommen.
Archäologische Funde werden so interpretiert, dass sie im Widerspruch dazu stehen, wie die Ereignisse in der Bibel berichtet werden.Die archäologischen Daten sind bruchstückhaft und können falsch interpretiert werden. Alternative Interpretation dieser Daten sind plausibler.16
Tab. 1 – Häufige scheinbare Probleme im Zusammenhang Irrtumslosigkeit der Bibel und mögliche Erklärungen.

Fazit

Die Irrtumslosigkeit der Bibel darf nicht als fundamentalistisches Relikt der Vergangenheit gesehen werden. Aufgrund dessen, dass Gott allwissend und moralisch perfekt ist, kann man erwarten, dass seine Offenbarung keine Fehler enthält. Weil Jesus die Irrtumslosigkeit der Bibel und damit ihre Genauigkeit bis auf den einzelnen Buchstaben vertrat, sollte jeder, der ihn als Sohn Gottes anerkennt, ebenfalls diese Ansicht vertreten.

Der Einwand, dass alle Argumente für die Irrtumslosigkeit der Bibel zirkulär sind, ist zurückzuweisen, da es auch Argumente gibt, die von der Bibel unabhängig sind. Der Einwand, die Bibel enthielte Fehler, kann hier nicht abschliessend beantwortet werden, da die Einwände von Person zu Person variieren können. Dennoch gibt es eine Reihe häufiger Gründe, weshalb der Bibel fälschlicherweise Fehler vorgeworfen werden.

Fussnoten

  1. Dies ist eine wichtige Einschränkung. In Psalm 14:1 steht beispielsweise «Es gibt keinen Gott!». Aus dem Kontext dieses Verses geht aber hervor, dass die Bibel diese Aussage nicht bejaht, sondern lediglich von Menschen spricht, die eine solche Aussage machen. ↩︎
  2. Siehe Gregg R. Allison, “The Inerrancy of Scripture,” in Historical Theology: An Introduction to Christian Doctrine (Grand Rapids, MI: Zondervan, 2011). ↩︎
  3. Anselm, Proslogion, Kap. 2. ↩︎
  4. Ryrie verwendet einen ähnlichen Syllogismus. Er argumentiert, dass (1) Gott wahr ist (Rom 3:4) und dass (2) die Schriften «Gottgehaucht» sind (1 Tim 3:16). Daraus folgt, dass alle Schriften wahr sind, siehe Charles C. Ryrie, “Some Important Aspects of Biblical Inerrancy,” Bibliotheca Sacra 136 (January–March, 1979): 17. ↩︎
  5. Irenaeus, Against Heresies 3.11.8. ↩︎
  6. Vanlaningham listet unter anderem folgende frühen Kirchenväter auf: Papias (frühes 2. Jh.), Pantaenus (ca. 200 n. Chr.), Tertullian (160-220 n. Chr.), Origenes (185-254 n. Chr.). Siehe Michael G. Vanlaningham, “Matthew,” in The Moody Bible Commentary, ed. Michael A. Rydelnik and Michael Vanlaningham (Chicago, IL: Moody Publishers, 2014), 1449. ↩︎
  7. Martin Hengel, Evangelienüberschriften (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1984), 11. ↩︎
  8. Der Einwand Papias erwähne in seinem Werk Fünf Schriften über die Auslegung der Herrenworte, welches auf etwa 120 n. Chr. datiert wird, dass Matthäus lediglich eine Sammlung von Aussprüchen in Hebräisch oder Aramäisch verfasst habe (siehe Eusebius, Hist. Eccl. 3, 39,16), wird deswegen zurückgewiesen, weil Papias auch das Markus-Evangelium eindeutig als «Zusammensetzung von Herrenworten» bezeichnet (siehe Eusebius, Hist. Eccl. 3,39,15). ↩︎
  9. D. A. Carson and Douglas J. Moo, An Introduction to the New Testament, Second Edition. (Grand Rapids, MI: Zondervan, 2005), 152. ↩︎
  10. Bruce Vawter, Biblical Inspiration (Philadelphia: Westminster, 1972), 132–33. ↩︎
  11. Ulfat Aziz-us-Samad, Islam & Christianity (Cairo: Al-Falah Foundation, 2003), 41. ↩︎
  12. Wayne A. Grudem, Systematic Theology: An Introduction to Biblical Doctrine (Grand Rapids, MI: Inter-Varsity Press; Zondervan Pub. House, 2004), 92. ↩︎
  13. Theologen unterscheiden daher auch zwischen der eigentlichen Stimme (ipsissima vox) und der genauen Worte (ipsissima verba). Siehe Darrell L. Bock, «Precision and Accuracy: Making Distinctions in the Cultural Context That Give Us Pause in Pitting the Gospels against Each Other,” in Hoffmeier, James K. Do Historical Matters Matter to Faith?: A Critical Appraisal of Modern and Postmodern Approaches to Scripture (Wheaton: Crossway, 2012), 367. ↩︎
  14. L. Russ Bush, “Understanding Biblical Inerrancy,” Southwestern Journal of Theology 50, no. 1 (Herbst 2007), 23. ↩︎
  15. Wayne A. Grudem, Systematic Theology: An Introduction to Biblical Doctrine (Grand Rapids, MI: Inter-Varsity Press; Zondervan Pub. House, 2004), 91. ↩︎
  16. Für den Auszug Israels aus Ägypten und die Landeinnahme, siehe bspw. Kenneth Kitchen, On the Reliability of the Old Testament (Grand Rapids: Eerdmans, 2006). ↩︎