Der Fall Galilei und das Prinzip der göttlichen Anpassung

Kreist die Sonne um die Erde oder umgekehrt? Diskussionen darüber forderten auch Theologen heraus. Das Auslegungsprinzip der göttlichen Anpassung hilft, schwierige biblische Passagen zu verstehen.

Ein neues Weltbild

Die Sonne kreist um die Erde: Das war die vorherrschende Sichtweise während der Antike und im Mittelalter. Einflussreiche Naturphilosophen wie der Grieche Aristoteles stellten die Erde in den Mittelpunkt ihrer kosmologischen Modelle. Viele plausible Argumente, wie die Bewegung aller Körper in Richtung Erdmitte oder die scheinbar fixe Position der Sterne am Himmel, sprachen für ein geozentrisches Modell. Bis zum Ende des Mittelalters waren sich die Gelehrten einig, dass dies das richtige Weltbild sei.

Der Übergang zum heliozentrischen Weltbild, in dem sich die Erde um die Sonne bewegt, begann 1543 mit dem revolutionären Werk Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären von Nikolaus Kopernikus. Darin zeigte er auf, dass die Bewegungen der Planeten mathematisch viel einfacher durch eine kreisförmige Bewegung um die Sonne beschrieben werden kann. Damit begann eine wissenschaftliche und theologische Diskussion um die Position und Bewegung der Erde im Weltall.

Aufgrund einiger Bibelverse lehnten zunächst sowohl die katholische Kirche als auch die Reformatoren das heliozentrische Weltbild mehrheitlich ab. Befürworter wie Kepler oder Galilei, die ebenfalls an der Irrtumslosigkeit der Schrift festhielten, mussten einen Weg finden, um diese Passagen mit dem kopernikanischen Modell in Einklang zu bringen. Sie argumentierten, dass Gott seine Sprache unserer menschlichen Perspektive auf der Erde angepasst hat und so über Naturphänomene spricht, wie sie irdischen Beobachtern erscheinen. Dieses Prinzip der Bibelauslegung wird Akkommodation oder göttliche Anpassung genannt.

Der endgültige Nachweis für die Richtigkeit des heliozentrischen Weltbilds gelang Friedrich Bessel erst im Jahre 1838, als er die winzige Bewegung der Sterne am Himmel nachwies, welche durch die Bewegung der Erde um die Sonne entsteht. Heute akzeptieren praktisch alle Christen, dass sich die Erde um die Sonne bewegt und dass dies nicht im Widerspruch zu den Aussagen der Bibel steht.

Abb. 1 – Eine Statue von Galileo Galilei in der Loggiato degli Uffizi in Florenz

Wie kommuniziert Gott?

Dies ist die grundlegende Frage, die hinter dem Prinzip der göttlichen Anpassung steht. Da sich Gott als übernatürliches und unendliches Wesen unvorstellbar stark von uns Menschen unterscheidet, würde man erwarten, dass die Kommunikation zwischen Gott und Mensch sehr schwierig sein könnte. Besonders seit dem Sündenfall, der bestimmt auch unsere intellektuellen Fähigkeiten in Mitleidenschaft zog, ist eine gelingende Verständigung alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wie wir im Alten und Neuen Testament jedoch erfahren, hat Gott nie aufgehört, zu uns Menschen zu sprechen. In 5. Mose 30 sagt er zum Volk Israel: „Dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich“ (5. Mo. 30:11). Er befiehlt ihm sogar, es ihren Kindern zu lehren (5. Mo. 6:7). Gott ist also in der Lage, seine Wahrheiten auch den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft zu vermitteln. Das wichtigste Beispiel für eine göttliche Anpassung ist die Menschwerdung Christi. In Jesus ist Gott „den Brüdern in allem gleich“ geworden (Hebr. 2:17). Die Vorstellung eines uns entgegenkommenden Gottes findet sich also in verschiedenen Passagen der Heiligen Schrift.

Die Kontroverse um das geo- und heliozentrische Weltbild betraf das Verständnis einiger weniger Bibelstellen, wobei die meistdiskutierte Stelle aus dem Buch Josua stammt. Als Israel und die Männer von Gibeon gegen die Amoriter kämpften, sagte Josua: „Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still, und der Mond blieb stehen, bis das Volk sich an seinen Feinden gerächt hatte. (…) Die Sonne blieb stehen mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen, ungefähr einen ganzen Tag lang“ (Josua 10:12b-13). Zwei weitere Passagen, die scheinbar ein geozentrisches Weltbild voraussetzen, sind Psalm 93:1 und Psalm 104:5. In der ersten Stelle heisst es: „Ja, fest steht die Welt, sie wird nicht wanken.“ Letztere bekräftigt diese Aussage mit einer sehr ähnlichen Formulierung: „Er hat die Erde gegründet auf ihre Grundfesten. Sie wird nicht wanken immer und ewig.“ Verteidiger des Geozentrismus betrachteten diese Passagen als Widerlegung des neuen heliozentrischen Weltbildes. Ihre Gegner sahen jedoch kein Problem darin, diese Passagen aufgrund des Prinzips der göttlichen Anpassung mit dem Heliozentrismus zu vereinbaren.

Welche Standpunkte vertraten die damals beteiligten Protagonisten?

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Georg Joachim Rheticus

Georg Rheticus war ein lutherischer Astronom, der den katholischen Nikolaus Kopernikus dazu ermutigte, sein Buch zu veröffentlichen, da er das heliozentrische Modell nicht im Widerspruch zur biblischen Lehre sah. Kopernikus hatte sein Buch lange Zeit nicht veröffentlicht, da er vermutlich Widerspruch befürchtete. Nachdem eine vorläufige Veröffentlichung von Rheticus nicht viel Widerstand hervorrief, gab Kopernikus die Erlaubnis, sein Werk zu veröffentlichen, verstarb jedoch noch im Jahr der Veröffentlichung.

In einem kürzlich entdeckten Buch schreibt Rheticus in Bezug auf die Passagen aus dem Buch der Psalmen, dass diese so verstanden werden sollten, dass die Erde in ihrer Gesamtheit so bleibt, wie sie geschaffen wurde. Diese Passagen lehrten nur, dass jeder Himmelskörper in sich stabil sei, sprächen aber nicht über ihre relative Bewegung zueinander. Über die Bewegung der Sonne am Himmel schrieb er: „Die übliche Rede folgt jedoch meist dem Urteil der Sinne … Wir müssen in unseren Köpfen zwischen dem Anschein und Wirklichkeit unterscheiden.“1

Martin Luther

Aus den Tischreden Martin Luthers geht hervor, dass der Reformator vermutlich von Kopernikus‘ Idee gehört hat, diese aber unter Bezugnahme auf Josua 10:12 ablehnte. Luther schrieb „Es ward gedacht eines neuen Astrologi, der wollte beweisen, dass die Erde bewegt würde und umginge, nicht der Himmel oder das Firmament, Sonne und Mond. … Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren. Aber wie die Heilige Schrift anzeiget, so hiess Josua die Sonne still stehen, und nicht das Erdreich.“2

Johannes Calvin

Zu der Frage, ob Johannes Calvin den Heliozentrismus akzeptierte oder nicht, gibt es keine Einigkeit. Durch seine Schriften leistete er jedoch wesentliche Beiträge zum Prinzip der Akkomodation. In einer berühmt gewordenen Passage beschreibt Calvin, dass Gott mit den Menschen rede wie eine Amme mit einem kleinen Kind: „Die … aber, die sich einbildeten, Gott sei körperlich, weil ja die Schrift ihm häufig Mund, Ohren, Augen, Hände und Füße zuschreibt, sind leicht zu widerlegen. Denn es muss doch einer schon sehr töricht sein, wenn er nicht sieht, dass Gott an solchen Stellen mit uns kindlich redet, wie Ammen mit den Kindlein tun! Solche Ausdrücke wollen deshalb nicht etwa klar darlegen, wie denn Gott beschaffen sei, sondern vielmehr seine Erkenntnis unserer Schwachheit anpassen. Damit das aber möglich ist, muss Gott tief unter seine Erhabenheit heruntersteigen.“3

In seinem Kommentar zum Schöpfungsbericht erklärt Calvin, wieso Mose den Mond und die Sonne als die beiden großen Lichter bezeichnet, obwohl einige Planeten größer als der Mond sind: „Mose macht zwei grosse Lichter; aber Astronomen beweisen aus schlüssigen Gründen, dass der Stern Saturn, der aufgrund seiner großen Entfernung am kleinsten erscheint, größer ist als der Mond. Hier liegt der Unterschied; Mose schrieb in einem populären Stil Dinge, die … alle gewöhnlichen Menschen … verstehen können; aber Astronomen untersuchen mit großer Mühe, was auch immer die Klugheit des menschlichen Geistes verstehen kann.“4

Robert Bellarmin

Robert Bellarmin war Kardinal und Jesuit während der Gegenreformation. 1616 lud er Galileo Galilei vor und ermahnte ihn, das kopernikanische Weltbild nicht als Tatsache zu lehren. Bellarmin bestand darauf, dass eine solche Sichtweise der Heiligen Schrift, wie sie von den Kirchenvätern interpretiert wurde, widerspricht. Im Gegensatz zu reformierten Theologen waren katholische Theologen nicht nur an die Bibel, sondern auch an deren Auslegung durch die Kirchenväter gebunden. Interessanterweise erwog er aber auch die Möglichkeit, dass zukünftige Entdeckungen beweisen könnten, dass das heliozentrische Weltbild richtig sei. In diesem Fall, so schrieb er, müsste man mit großer Sorgfalt vorgehen, um die Schrift zu erklären, die gegensätzlich erscheint.5 Die katholische Kirche lehnte das heliozentrische Weltbild also ab, manche ihrer Vertreter waren aber deutlich weniger dogmatisch, als dies gewöhnlich dargestellt wird.

Galileo Galilei

Aufgrund seiner Beobachtungen mit dem kürzlich erfundenen Teleskop war Galileo Galilei ein überzeugter Verfechter des Heliozentrismus. Er sah jedoch keinen Konflikt zwischen dieser Weltanschauung und der Lehre der Heiligen Schrift. Er vertritt, dass die Bibel nicht irren kann, aber dass ihre Interpreten es oft taten.6 Galilei bezog sich jedoch nicht auf das Prinzip der göttlichen Anpassung, um die Ereignisse von Josua 10 zu erklären. Stattdessen glaubte er, dass der Heliozentrismus in der Bibel enthalten sei, wenn man wüsste, wie man sie richtig liest. Er interpretierte Josuas Befehl an die Sonne so, dass sie sich nicht mehr um ihre eigene Achse drehen soll. Da er fälschlicherweise dachte, dass die Rotation der Sonne auch der Antrieb für die Drehung der Planeten war, hätte dies seiner Meinung nach tatsächlich zu einem langen Tag geführt.7

Nützlichkeit und Grenzen des Prinzips der göttlichen Anpassung

Die astronomischen Entdeckungen des 16. Jahrhunderts forderten die Theologen heraus, ihre Interpretation einiger biblischer Passagen neu zu überdenken. Dabei hat sich das hermeneutische Prinzip der göttlichen Anpassung als nützlich erwiesen, welches besagt, dass Gott seine Sprache an unsere menschliche Situation anpasst. Wie Rheticus oder Calvin richtig feststellten, steht der Bericht über die stillstehende Sonne im Buch Josua nicht im Widerspruch zum heliozentrischen Weltbild. Wenn es dort heisst, dass die Sonne stillstand, ist das eine korrekte Beschreibung der Situation aus Sicht der Erde. Dies liegt daran, dass Geschwindigkeiten relative Grössen sind, die vom Standpunkt des jeweiligen Beobachters abhängen. Während für einen Beobachter auf der Erde sich die Sonne im Laufe des Tages über den Himmel bewegt, ist es für einen Beobachter auf dem Mond die Erde, die sich um sich selbst dreht. Aus physikalischer Sicht sind beide Sichtweisen korrekt, es werden lediglich unterschiedliche Bezugspunkte zur Festlegung der Geschwindigkeiten verwendet. In Bezug auf die Psalmen zeigt der Zusammenhang, dass es hier gar nicht um die relative Bewegung von Erde und Sonne geht, sondern darum, dass das Festland ein beständiger Wohnort ist, der von den Urfluten nicht nochmals überwältigt werden wird.

Wie sich später herausstellte, war die Debatte um das heliozentrische Weltbild ein Vorläufer für ähnliche Diskussionen in den folgenden Jahrhunderten, die sich auf Grund neuer Entdeckungen der modernen Wissenschaft ergaben. Das theologische Prinzip der göttlichen Anpassung blieb für Theologen bis heute nützlich. Der Schöpfungsbericht in 1. Mose 1 kann als Beschreibung dessen verstanden werden, was ein Mensch auf der Erde während der Schöpfungswoche beobachtet haben würde. Diese Denkweise hat beispielsweise geholfen, Schöpfungsmodelle zu entwickeln, die erklären, warum wir das Licht ferner Sterne in einem möglicherweise jungen Universum beobachten können.8  Göttliche Akkommodation kann jedoch nicht alle Schwierigkeiten auf dem Gebiet von Glaube und Wissenschaft lösen. Debatten über das Alter der Erde oder über die Entstehung der Arten können beispielsweise nicht mit einem einfachen Verweis auf dieses theologische Prinzip geklärt werden.

Wichtig ist, dass das Prinzip der göttlichen Anpassung nicht dazu benutzt wird, um die Fehlerlosigkeit der Bibel infrage zu stellen. In der Debatte um die kopernikanische Revolution haben auch die Vertreter des heliozentrischen Modells an der Irrtumslosigkeit der Schrift festgehalten. Richtig angewendet hat das Prinzip geholfen, scheinbar fehlerhafte Passagen als korrekte Sichtweise aus Sicht der Menschen zu verstehen. Seit der kopernikanischen Revolution hat die Überzeugung von der Irrtumslosigkeit der Schrift aber immer mehr abgenommen. Dies führte später zu einer problematischen Veränderung im Verständnis der göttlichen Anpassung. Fausto Sozzini (Socinus) gehörte zu den ersten, welche die Anpassung so verstanden, dass die Bibel nicht nur scheinbar falsche, sondern tatsächlich falsche Aussagen enthält, weil Gott sich den falschen Überzeugungen der Leser anpasst.9 Eine solche Haltung wäre für Theologen wie Calvin jedoch unhaltbar gewesen. Das traditionelle Verständnis betont, dass der Text trotz offensichtlicher Schwierigkeiten korrekt ist, während für Socinus der Text falsch war. Mit der Zeit gaben die meisten Wissenschaftler ihren Glauben an die Schrift als Wort Gottes völlig auf, womit sich die Frage nach der Vereinbarung neuer Theorien mit der Bibel ganz erübrigte.

Helfen, die Wahrheit zu erkennen

Die Auslegung der Bibel hat sich als flexibel genug erwiesen für den Übergang von einer geozentrischen zu einer heliozentrischen Weltanschauung. Zwar lehnten zuerst sowohl katholische als auch reformierte Theologen das heliozentrische Modell ab, aber dank dem Auslegungsprinzip der göttlichen Anpassung akzeptierten beide Seiten schliesslich, dass sich die Erde wie alle anderen Planeten um die Sonne bewegt. Die Kontroverse hatte den Effekt, die Auffassung zu schärfen, dass Gott mit den Menschen in einer leicht verständlichen Sprache kommuniziert, die sich an der alltäglichen Erfahrung der Menschen orientiert. Gottes Anpassung an unsere Situation darf jedoch nicht bedeuten, dass er sich falsches menschliches Denken zu eigen macht, was nicht mit Gottes Charakter vereinbar wäre. Vielmehr sollte sie uns helfen, die Wahrheit mancher Passagen zu erkennen, die im Lichte der Naturwissenschaft als schwierig erscheinen.

Fussnoten

  1. Gary B. Ferngren, ed., Science and Religion: A Historical Introduction (Baltimore, Md: Johns Hopkins University Press, 2002), 99. ↩︎
  2. Martin Luther, Table Talk, ed. Lehmann, Helmut T. (Fortress Press, 1967), 358–59. ↩︎
  3. Johannes Calvin, Institutes of the Christian Religion: A New Translation by Henry Beveridge. (Edinburgh: Calvin Translation Society, 1845), 1.13.1. ↩︎
  4. Jean Calvin, Commentaries on the First Book of Moses, Called Genesis (Grand Rapids, 1847), 1:16. ↩︎
  5. Michael Newton Keas, Unbelievable: 7 Myths About the History and Future of Science and Religion (Intercollegiate Studies Institute, 2019), 81. ↩︎
  6. Matthew Barrett, God’s Word Alone – The Authority of Scripture: What the Reformers Taught…and Why It Still Matters (Zondervan Academic, 2016), 125. ↩︎
  7. Stephen D. Benin, The Footprints of God: Divine Accommodation in Jewish and Christian Thought (New York: State University of New York Press, 1993), 196. ↩︎
  8. Jason P Lisle, “Anisotropic Synchrony Convention – A Solution to the Distant Starlight Problem,” Answers Research Journal 3 (September 22, 2010): 191–207. ↩︎
  9. Matthew Barrett, God’s Word Alone – The Authority of Scripture: What the Reformers Taught…and Why It Still Matters (Zondervan Academic, 2016), 86. ↩︎

Dieser Artikel basiert auf einer Semesterarbeit, die der Autor für den Kurs «Historical Theological» an der Biola University verfasst hat. Auf Deutsch erschien er erstmalig unter dem Titel „Eine Frage der Perspektive“ in der Zeitschrift factum des Schwengeler-Verlags (Ausgabe 6/24, factum-magazin.ch).